S bekommt zwischendrin einen dringenden Anruf: die Schwiegermutter, sie braucht vier Kilo mehlig kochende Kartoffeln. Und was die Schwiegermutter damit will? Kochen und einfrieren, vermutet S. Die Schwiegermutter sammle nämlich Gefriertruhen wie andere Leute Fotoalben, am liebsten gut gefüllt. Erwarte sie vierzig Gäste, backe sie zwanzig Kuchen, mit deren aufgetauten Resten sie dann übers Jahr die engere Familie füttere. Einmal habe sie achtzig Stück Butter gewollt, die habe man in zwei Geschäften eingekauft, um nicht unter den Verdacht des gewerblichen Verbrauchs zu fallen. Und was sie dieses Jahr einfriert: Walnüsse, kiloweise.
Da können die schlechten Zeiten ruhig kommen; Hauptsache, der Strom geht nicht aus.
Radiopredigten, sagt V, könne er innerhalb zweier Minuten zuordnen: bei den Evangelischen ist es Gelaber. Bei den Katholiken ist es deprimierend: das reine Jammertal. – Klar; einem Katholiken muß das Abstrakte verschwurbelt scheinen. Ich hingegen empfinde als geradezu unverschämt, wie unter Glöckchenklang und Weihrauchschwaden nichts weniger versprochen wird als: du mußt nicht sterben; dein Begräbnis ist eine Aussaat. Aber klar, so was zieht im Jammertal.
Meine Zeitgeber sind Bahnhofsuhren und die an Glockentürmen; die von Apotheken und anderen Geschäften bleiben ja allmählich alle stehen und werden früher oder später abmontiert. Und wie ich mit M aus dem Wald komme, wissen wir schnell, wo wir hinmüssen: Das da ist Eich, mit dieser riesigen Kirche, das lassen wir rechts liegen; wir wollen dort rüber, auf das romanisch-gotische Turmkonglomerat zu. Kann man nix sagen: Kirchen geben Orientierung.
Später stehe ich staunend im Mariendom. So eine herrliche Verschwendung von Raum; so etwas aus der Zeit Gefallenes, verrückt und wunderbar.
Sechs Wochen haben sie Zeit, sagt T, dann kommt ein professioneller Entrümpler und entsorgt die Reste. Nun muß er alles noch einmal in die Hand nehmen, was seiner Mutter gehört hat, und vieles, was seit seiner Kindheit im Haus war.
Ihr Lieblingsgeschirr, sagt er, geht auf den Flohmarkt. Das könnte er nicht benutzen. Nicht Tag für Tag; schon gar nicht an Feiertagen. Da gibt es zwei Schüsseln, wertlos und nicht mal schön, aber als Kind liebte er sie, weil mit jedem gegessenen Löffel mehr Blumen am Boden sichtbar wurden. Die hat er sich ausgesucht; und das Bescherungsglöckchen.
Was aber macht man mit 2000 Dias? Die gesamte Familiengeschichte? Ich kann nicht zum Anschauen und Sortieren raten und schon gar nicht zum Wegwerfen. (Ich erinnere mich zu gut daran, wie nach dem Tod des Liebsten alle seine Fotos entsorgt wurden; und wie gern ich die manchmal noch angeschaut hätte, viel, viel später.) Nimm sie an dich und verwahre sie irgendwo, sage ich. Das kann dauern.
Ach ja: Wäschemangel?
Nee ... Platzmangel.
Dacht ich mir.
Kind 1 ist für zwei Tage alleine da, tolle Sachen für Zehnjährige machen, die noch nichts sind für Kind 2 mit sechs.
Es ist nicht einfach. So sehr sie sich sonst in den Haaren liegen, so sehr fehlen sie einander; zumindest 1 macht sich Gedanken: ob 2 sich langweilt? Wir schreiben eine Postkarte aus dem Museum und eine aus dem Café. Abends gibt es Tränen: vielleicht hat 2 ja Angst allein?
Am dritten Tag lauert 1 auf die Türklingel: 2 kommt mit B zum Abholen! Weinend stürzen sie sich an der Haustür in die Arme, aber das Glück währt kaum die Treppe hoch; dann ist 1 beleidigt, weil 2 sich gar nicht richtig gefreut hätte.
Als das Gezänk zu arg wird, spricht B ein ernstes Wort. Reiß dich zusammen, 1, du bist älter! Und 2, provozier nicht dauernd! – 1 lenkt ein und denkt sich zur Versöhnung für 2 ein Märchen aus. Ein paar Minuten geht das gut; dann streiten in meiner Küche Prinzessin Traumana und der Drache Kolumbus, wer hier eigentlich wen entführt hat.
Nur noch acht, zehn Jahre maximal, tröste ich B. Sie schaut grimmig: Und so wie ich das kenne, gehen die viel zu schnell vorbei.
Auf dem Vorplatz treffe ich V, der für diesen Tag aus dem Urlaub angereist ist. Wir gehen gemeinsam in die Kirche. Die habe ich, obwohl ich jahrelang fast jeden Tag daran vorbeigefahren bin, noch nie betreten; ein freundlicher, fensterreicher Raum mit Bildschmuck irgendwo zwischen Barock und Klassizismus. Die Urne steht in einem Blumengesteck vorm Altar. Die Reihen sind mit Schwarzgekleideten gefüllt; ganz vorn sitzen T und seine Familie.
Bist du auch evangelisch?, frage ich V, als ich mit Rumms über die Kniebank stolpere. So katholisch, wie es nur geht, flüstert V zurück, und tatsächlich, er weiß, was man singt und antwortet, wann man kniet, wann man ein großes Kreuz vor der Brust schlägt oder ein kleines auf die Stirn zeichnet. Ich kann bloß die liturgischen Worte und ein paar Lieder.
Der Priester zelebriert die Messe mit Abendmahl. Bei der Aussegnung singt er auf Latein und anschließend in einer Sprache, die ich nicht kenne. Es sagt vielleicht weniger über diese Gemeinde, daß ihr Priester Afrikaner ist, aber einiges über die Zeit, daß jetzt die einst in fernen Ländern Missionierten den Betrieb aufrechterhalten. (Ob das ein freudiger Hirtendienst ist unter murmelnden Schafen mit Hörgeräten und Gehstöcken, sei dahingestellt.)
Ich mag, wie er den Namen von Ts Mutter ausspricht. Die Daten und Tatsachen dieses Lebens verknüpft er mit dem Ritus, der den meisten der Versammelten so vertraut ist wie ihre schwarze Kleidung.
Die Zeremonien scheinen mir endlos. Als wir schließlich draußen um das Grab versammelt sind, V und ich im Hintergrund, staune ich: So ein ungewöhnlicher Stein! Das gab bestimmt Ärger. Klar, grinst V, das ist Dorf. Außerdem werden sie hinterher diskutieren, wer eigentlich wir sind.
In den Häusern und Gärten um den kleinen Friedhof herum toben Kinder und Hunde, laufen Fernseher, schwatzen Nachbarn, und ich denke, hier ist die Kirche wirklich im Dorf; und wir sind, so endgültig das hier alles sein mag, umfangen vom Leben.
Nächste Seite