Die erste große Hitze ist über die Stadt gebrandet und hinterläßt einen Spülsaum aus gebleichtem Gras, abgeworfenen Straßenbaumästen und von Ameisen überlaufenen, toten Jungvögeln auf den Gehsteigen, die der Temperatur noch kein Federkleid entgegenzusetzen hatten.
Es wird immer stiller, sagt M. Im Ballungsgebiet dünnt der Vogelchor Jahr um Jahr weiter aus. Und wir: gewöhnen uns dran. Bis wir nichts mehr hören als unsere eigenen Stimmen; und die der Motoren.
Ein Fürst unter den Nerds ist der, der nicht nur seine eigene Programmiersprache entwickelt, sondern ihr auch noch einen Namen aus der eigenen Kunstsprache gibt.
Und wie spricht man das aus?
Eine oder zwei Silben, je nach dem, welcher Dialekt.
In der Kantine treffe ich R, in der Nische für Mitarbeiter und Freunde des Hauses. Wir nehmen uns in den Arm. R ist dünn geworden, aber gebräunt, mit frischem Haarschnitt. Seit er kein Auto mehr fährt, wandert er weite Strecken zwischen den Ortschaften mit seiner Hündin, die nun unterm Tisch schläft.
Ich freue mich, ihn zu sehen. Mir geht's prima, grinst er und wird kurz ernst, nur die Birne ist scheiße.
Gerade ist F da, der Mann einer Mitarbeiterin, die heute keine Betreuung für ihn hat. F, ein grau-blonder Seebär mit Lachfalten um die sehr blauen Augen, war mal Ingenieur. Er ist schon länger krank als R. Mehrmals am Tag legt er sich für ein Stündchen hin. Dazwischen kümmert sich R um ihn, trinkt mit ihm Kaffee, stellt ihn Leuten vor, nimmt ihn mit auf Spaziergänge.
Beiden fallen oft die richtigen Worte nicht ein. Bei F sind die Lücken offensichtlich: wie alt sein Sohn ist? was er nachher macht? Er lächelt bedauernd. Also, das weiß ich nun wirklich nicht. Manchmal fängt er eine Geschichte an, die dann nach kurzer Zeit versiegt. In den Pausen kommt seine Frau vorbei und hilft ihm in die Jacke oder reicht ihm das richtige Besteck. Einmal äfft er giftig ihren Tonfall nach. Na hör mal, weist sie ihn milde zurecht, ich meckere doch gar nicht mit dir! Ach so, lacht F. Das muß man einem Dummen auch mal sagen.
Unterm Tisch erwacht die Hündin und klopft mit dem Schwanz auf den Boden. Als R sie noch nicht lange hatte, machte sie sich, wenn sie spürte, daß seine Aufmerksamkeit abdriftete, selbständig und lief zu anderen Leuten oder suchte den Boden ums Buffet ab. Jetzt bleibt sie in Rs Nähe, legt ihm immer mal wieder die Pfote aufs Knie, läßt sich streicheln und folgt ihm mit dem Blick, wenn er den Tisch verläßt. Mit F hält sie es genauso, einfach so, und der ist entzückt. Paß mal bloß auf, R, scherzt er, die klau ich dir.
Rs Erzählungen mäandern; immer wieder entschuldigt sich, daß er Wortfindungsstörungen habe. Dann wieder gelingt ihm eine schlagfertige Antwort, und alle am Tisch lachen. Nur F schaut vor sich hin und sagt leise: Ich versteh das alles nicht. Wie das hier funktioniert. Er weist in die Runde, auf die Kantine, auf die Welt. Da schiebt sich seitlich die Hundeschnauze auf sein Knie, und siehe da: für einen Moment ist alles gut.
Es fängt, wie manches Unglück, an mit einem Schnupfen. Der ist hartnäckig, eigentlich immer da, nicht mal Antibiotika können ihm was; meist hält er sich im Hintergrund. Dann aber: wumms, halbe Nase zu, dann Druck im Schädel, Schmerz bei Wind, dann: Ohr dicht, voller Rauschen oder Dröhnen. Was durchdringt, klingt häßlich, verspätet, tiefer oder höher als der Rest. Musik macht überhaupt keinen Spaß, Gespräche auch nicht, Telefonieren tut weh. Schlimmer noch: der Wecker piept umsonst, die Orientierung im Raum ist dahin, jeder Wortwechsel schlingert um "Was?"
Im Wartezimmer hängen seltsame Drucke an der Wand von halbtransparenten Wesen in Gürteln und Stricken. Ja, rechts schlechter, nein, nichts zu sehen, weiß man nicht, müssen wir beobachten.
Ich kenne das, irgendwann geht's auch wieder, nur nie mehr so gut wie vorher. Einstweilen schlafe ich viel.
Die Medizin, bemerkt H, ist keine exakte Wissenschaft; und dann geht die Stocherei los.
(Abgrundtief keine Lust.)
T und ich wollen uns eben verabschieden, da stürmt brüllend ein Mann über den Marktplatz und auf uns zu, schimpft, daß der Speichel sprüht, ein Kruzifix in der Faust. T knurrt ihn an, er möge Abstand halten; das entfacht seine Wut erst richtig. Er fuchtelt mit dem Kreuz vor T herum, schreit und kreischt, ehe er weiterrennt. Wir sind verdattert; was war denn das? Italienisch? Wir haben kein Wort verstanden.
Eine kleine alte Frau mit Rollator bleibt bei uns stehen und erklärt entrüstet in breitestem Dialekt: so was hätt kein anständiger Mensch gesagt, was der gesagt hat; ihr Mann selig wär auch Piemonteser gewesen, das wär ihm nicht über die Lippen gegangen, so eine Schande … Im selben Moment rangiert ein LKW gleich neben uns, der Dieselmotor übertönt, was die Frau uns gerade wohlmeinend übersetzt, wir nicken freundlich und machen uns aus dem Staub.
Nun, wo er sowohl vor den Flüchen selbst als auch vor ihrer Übersetzung bewahrt geblieben ist, meint T, was soll jetzt noch passieren?, geht zur Post und schickt endlich sein Manuskript an die Agentur.
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