Es geht ja nicht um vier Jahre.
Mir sind die Versprechen, daß es für alle super wird und keiner auf irgendwas verzichten muß, so widerwärtig. Das hat noch nie gestimmt. Neu wäre eine Politik, die es nicht die Schwächsten ausbaden läßt.
Überhaupt, Klimakrise: Da drücken wir die Hand unserer eigenen Kinder auf die immer heißere Herdplatte und zucken die Achseln: also, ich merk nix.
Aus gegebenem Anlaß: das ist nicht alt geworden, leider.
Was bist du dieses Jahr? Sargträgerin??
Nein. Wahlhelferin bin ich dieses Jahr; fühlt sich aber gerade genauso an.
Von einer besonnten Johannisbeerrispe die Früchte mit den Lippen abstreifen und, wenn sie zwischen den Zähnen platzen, vor Aroma, Säure und Erinnerungen frösteln.
Fast überall in meinem Kreis hat man schon, demnächst oder wenigstens bald die zweite Impfung, und so was wie Normalität gerät in Reichweite. (Meine Enttäuschung darüber, daß wir offenbar zufrieden sind, alles wieder wie zuvor zu machen, steht auf einem anderen Blatt.) Ich muß mich allmählich wieder an Menschen gewöhnen.
Sie ist fast achtzig, er zehn Jahre älter, vor einem Jahr haben sie sich kennengelernt (wie, bleibt ihr Geheimnis), vor einem halben zog sie bei ihm ein. Sie erzählt, im Prospekt habe sie seine Lieblingsmarmelade im Angebot gefunden und sich auf den Weg gemacht, gleich zehn Gläser kaufen, um ihn zu überraschen, dabei ihr Tempo überschätzt und noch in der Schlange an der Kasse stehen müssen; als sie ausblieb, habe er sich Sorgen gemacht und sei sie mit dem Auto im Ort suchen gefahren. Allein hätte sie es aber mit all der Marmelade im Rollatorkorb auch kaum geschafft. Sie, die nie ein gutes Händchen für Männer gehabt hat, sagt, dieser sei ihr größtes Glück, und: Wenn er mal nicht mehr ist, dann bleibe ich die paar Jahre allein.
Der Metzger auf dem Wochenmarkt ist wieder da: eine neue Hüfte hat er bekommen, allerhöchste Zeit war's. Der Eingriff wurde unter lokaler Anästhesie durchgeführt, alles bei vollem Bewußtsein; Schneiden, Auslösen, Sägen, Fräsen, Hämmern: es ist schon was, sich einen chirurgischen Eingriff von einem Metzgermeister schildern zu lassen, er ist ja quasi vom Fach. Jedenfalls: bestens gelaufen. Keinerlei Komplikationen, und alle so nett da. Hätte er das gewußt, wäre er früher gegangen. Ich verlasse den Stand in guter Stimmung, denn der Metzger ist einer, dem man das von Herzen gönnt.
Geschenkt: Ausflüge mit D und J: mit Menschen unterwegs, die sich auf das Schauen als Kunst verstehen. Und zu sehen, wie die schöne B in einen Pullover schlüpft und der an ihr großartig aussieht (genau für sowas habe ich Stricken gelernt).
T hatte eine Dorfkindheit, sieben Jahre und sieben Kilometer entfernt; was er erzählt: kenn ich.
Wie gern er, noch kein Schulkind, Brot gekauft hat, weil's so gut roch in der Bäckerei; und wie ihn immer irgendjemand fragte: wem bisch du dann?, und, wenn er brav antwortete, ach, es Langmanns ihrer!, dabei hieß er gar nicht Langmann und auch seine Familie nicht. Langmann war der Mädchenname seiner Mutter gewesen. Der Vater, von überm Fluß her zugezogen und evangelisch!, hieß im Dorf: Langmanns Annelies ihr Mann.
Als dieser früh starb, wurde er auf dem Friedhof mitten im Ort begraben, und zwar – das begriff T erst später – da, wo die ungetauften Kinder und die Selbstmörder lagen. Die Familie rächte sich und stellte einen Grabstein auf, der ganz und gar nicht der Tradition im Ort und auch nicht dem Regularium der Friedhofsverwaltung entsprach; aber wer hätte Langmanns Annelies das abschlagen wollen?
T zog, sobald er konnte, in die übernächste Stadt. Heute fährt er nur noch ins Dorf, um beim Grab nach dem Rechten zu sehen.
Nest zerstört, Brut geraubt – irgendwas war; einen ganzen langen Tag hatte ein Amselpaar in den Hinterhöfen gezetert, Alarm Alarm, nervenzerfetzend. Am nächsten Tag war es ruhiger, nur noch stundenweise Geschrei. Abends sang der Amselmann schon wieder auf dem Dach.
Dann saß eine kleine Amsel im Hof, ein graues Weibchen, voll befiedert. Ihr Instinkt trieb sie ins Versteck, wenn sich was regte; trug aber der Wind ein Amsellied in die Mauerschlucht, hüpfte sie unten und rief, hell und durchdringend, ohne je Antwort zu bekommen; zwei Tage lang, erst immer dringlicher, dann immer schwächer. Die zweite Nacht, es regnete stark, hat sie nicht mehr überlebt.
Zwei Tage lang hörte ich den kleinen Vogel vergeblich rufen, zwei Abende suchte ich und fand ihn nicht. Die ganze Zeit sagte ich mir: Natur, und: menschlicher Eingriff selten gut, und: so geht das eben; aber diese verlassene Amsel hat mich traurig gemacht. Um all das Vertrauen, die berechtigten Hoffnungen, die enttäuscht werden; um alle Wesen, die nicht verstehen, wie ihnen da geschieht. Und ich muß mir eingestehen: ein Teil von mir ist immer noch sieben Jahre alt und weint um jedes Vögelchen, das nicht zu retten ist.
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