Nest zerstört, Brut geraubt – irgendwas war; einen ganzen langen Tag hatte ein Amselpaar in den Hinterhöfen gezetert, Alarm Alarm, nervenzerfetzend. Am nächsten Tag war es ruhiger, nur noch stundenweise Geschrei. Abends sang der Amselmann schon wieder auf dem Dach.
Dann saß eine kleine Amsel im Hof, ein graues Weibchen, voll befiedert. Ihr Instinkt trieb sie ins Versteck, wenn sich was regte; trug aber der Wind ein Amsellied in die Mauerschlucht, hüpfte sie unten und rief, hell und durchdringend, ohne je Antwort zu bekommen; zwei Tage lang, erst immer dringlicher, dann immer schwächer. Die zweite Nacht, es regnete stark, hat sie nicht mehr überlebt.
Zwei Tage lang hörte ich den kleinen Vogel vergeblich rufen, zwei Abende suchte ich und fand ihn nicht. Die ganze Zeit sagte ich mir: Natur, und: menschlicher Eingriff selten gut, und: so geht das eben; aber diese verlassene Amsel hat mich traurig gemacht. Um all das Vertrauen, die berechtigten Hoffnungen, die enttäuscht werden; um alle Wesen, die nicht verstehen, wie ihnen da geschieht. Und ich muß mir eingestehen: ein Teil von mir ist immer noch sieben Jahre alt und weint um jedes Vögelchen, das nicht zu retten ist.
Gleis 3, Abschnitt F auf einem der letzten Wartesitze, ich bin in das Notfallbuch vertieft, das M mir mitgegeben hat. Aus dem Augenwinkel sehe ich wen die Treppen herauf hasten, knochendürr, gebeugt, nicht zu erkennen, ob Mann oder Frau, die fettigen Haare hin- und herpendelnd vor dem Gesicht, und ich fische nach Münzen in der Tasche (nur noch Kleinkram übrig), aber die schlurfenden Schrittchen werden nicht langsamer, da sind sie schon vorbei; dieser Mensch scheint es eilig zu haben. Von hinten sehe ich die zerschlissene Hose und eine sehr mitgenommene Aktentasche.
Der Krimi ist gut, schräge Szenarien und kein Schimmer, was das werden wird, aber irgendwann schaue ich doch nach der Uhr: kommt der Zug nicht?, stattdessen vom Ende des Bahnsteigs her dunkelblaue Kampfwesten: zwei, vier, ach was: acht Sicherheitsleute, Himmel, sie tragen einen, aber nein, sie führen den Menschen von eben zwischen sich, ich kann seine Schlurfschrittchen hören, die Arme haben sie ihm im Rücken zusammengedreht, und ging er vorhin gebeugt, ist er jetzt gefaltet, hat er gar kein Gesicht, keinen Rücken mehr.
Ein paar Minuten später die Durchsage: alle Züge in meine Richtung fallen aus, Personen im Gleis, aber was hätte ich mich zu beschweren, mir war's ja auch lieber, daß der Mensch an mir vorüberging.
Vor zwanzig Jahren war das Internet nicht lang den Telnet-Zeiten entwachsen. Große Ideen, zwecklos Schönes, Themen ohne Grenzen; Lagerfeuer zum Drumrumsitzen für wirklich alle. Auch wenn man ein Hund war.
Vor fünfzehn Jahren fing ich an, mich für Blogs zu interessieren und mich auf virtuellen Schulhöfen herumzutreiben. Mit der Zeit wurde mir viel im Netz zu social, zu doof, zu geschäftstüchtig, zu überwach. Da gab es auf Antville immer noch: Wortgärten, Keller voller Insiderwitze, gute Geister, die besten Galerien der Gegenwart.
Seit sechs Jahren schreibe ich hier rein. In Ameisenjahren nicht viele; aber die, immerhin, durften hier im letzten Jahrtausend stattfinden.
Danke, liebes Ameisendorf, fürs Bleiben und Lassen! Und Dank all den freundlichen Menschen, die dafür sorgen, daß das so ist.
Aus dem Zugfenster sehe ich, wo die Mauersegler hin sind: die sausen schwarmweise eine Flügelspanne über dem Fluß und fangen aus der Luft, was sonst den Fischen zufällt.
Auf dem Bahnsteig Raubvogelgefühl, und tatsächlich kreist da ein Falke zwischen den Hochhaustürmen, strebt den Leuchtbuchstaben einer Hotelfassade zu und landet auf dem F. Hier wohnt er wohl; das F trägt weiße Streifen.
Spätabends, gerade ist noch Licht, lasse ich mich von Rotkehlchen und Zaunkönig in den Schlaf singen.
(So vor dreißig, vierzig Jahren wäre dieser Frühling nix Besonderes gewesen; im Bauernkalender stand: Mai kühl und naß füllt dem Bauern Scheun’ und Faß.)
Nachts höre ich Zugvögel über der Stadt, es müssen viele sein und in großer Höhe. Tags sind es die Flugzeuge, nun fast wieder im Minutentakt. (War das schön ruhig im letzten Jahr.)
Sonst ist nicht viel los auf dem Marktplatz, vielleicht wegen der Feiertage, vielleicht wegen der Sturmwarnung für heute. (Auch das ein Pandemiegewinn: längere Schlangen auf dem Wochenmarkt, normalerweise. Viel mehr Kundschaft.) T und ich trinken unseren Kaffee im Nieselregen, wir sind wetterfest, nur die Tassen muß man zudecken. T erwähnt einen Fernsehmoderator, der immer grenzwertig gutgelaunt sei: Ich habe nichts gegen gute Laune, wenn sie einen Grund hat! – Er weiß fast sofort, warum ich lospruste.
T hat die erste Impfung bekommen. Man merkt es. Eine Sorge weniger, was?, sage ich. – Naja. Eine halbe.
Aber ja, doch. Nun kann es wirklich besser werden.
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